Reutlinger Generalanzeiger zum Herbstkonzert 2010

Tänze und Traumwesen

VON CHRISTOPH B. STRÖHLE

REUTLINGEN . Das Nachwuchsorchester (NWO) der Jungen Sinfonie Reutlingen hat wieder ganze Arbeit geleistet – so leicht und voller Elan, dass ihm die Anstrengung kaum anzumerken war. Mit lustvoll angenommenen Herausforderungen im Programm und einer jungen Solistin, die Vivaldis Cellokonzert h-Moll RV 424 im Saal der Freien Georgenschule so sicher und gelassen spielte, dass sie alle in Staunen versetzte.

Anne Mauz, 1995 in Tübingen geboren, hat dieses Kunststück fertiggebracht, behände in der Artikulation und mit warmem, blühendem, kantablem Ton. Frisch und virtuos erklang der erste Satz, ausdrucksvoll intoniert und gut ausbalanciert. Die Orchestermusiker mit den traditionell roten Socken – wahlweise auch roten Stiefeln, Leggins oder Krawatten – zeigten hier ihre Begleiterqualitäten, wussten aus ihrem geschmeidigen Spiel heraus aber auch Strahlkraft und Glanz zu entfalten. Der melodische zweite Satz, nur für Cello und Basso continuo, brachte barocke Ausdrucksmusik par excellence, während sich im dritten und letzten Satz muntere Beweglichkeit Bahn brach. Ein Genuss, den das Publikum mit begeistertem Beifall quittierte.

Zuvor hatten die Nachwuchsmusiker mit Edward Elgars »Dream Children« Opus 43 nostalgische Töne angestimmt. Der englische Komponist hat sich von einem Essay von Charles Lamb inspirieren lassen, in dem ein Erwachsener wehmütig zurückblickt. Die Kinder, die seinen Ausführungen lauschen, erweisen sich als Wunschwesen: Traumgestalten, die verkörpern, »was hätte sein können«. Eine fast schwerelose Musik, sanft, elegisch, in Teilen tänzerisch, ohne große Entwicklung, aber mit wunderbar ausgestalteten Klangfarben, nicht zuletzt in Harfe und Klarinette.
 

Herbe Töne aus der Tatra

Welch ein Kontrast zu Henryk Góreckis kantigen, auf strukturelle Klarheit setzenden »Drei Stücken im alten Stil« für Streichorchester, die darauf folgten. Der vor zweieinhalb Wochen verstorbene Górecki, herausragender Vertreter der polnischen Avantgarde des 20. Jahrhunderts, hat hier Volksmusiktraditionen seiner geliebten Tatra aufgegriffen. Unbefangen, aber keinesfalls unbedarft ließen sich die Streicher auf die herbe Klanglichkeit und das robuste Spiel mit Akzentuierungen ein – besonders augen- und ohrenfällig im zweiten Stück – und machten die Interpretation für die Zuhörer zum Gewinn.

Konrad Heinz, der die Leitung des Orchesters im April dieses Jahres von Friedel Treutlein übernommen hat, ist mit den Musikern auf einer Wellenlänge. 1986 in Tübingen geboren, war er selbst jahrelang eine Stütze der Cellogruppe. Nach der Pause schlug er die Partitur von Antonín Dvoáks »Tschechischer Suite« Opus 39 auf. Eine Musik, die das NWO anfangs etwas holprig, dann aber zunehmend sicher zu gestalten wusste. Mit lebendigem, tänzerischem Impuls, böhmischem Kolorit – herausragend hier die Holzbläser! – und mit bemerkenswerter Klangdichte. Mit leisen, innigen, schmerzlich klagenden Passagen und wirkungsvoll gestalteten dramatischen Ausbrüchen.

Mit einem Advents-Choral entließen die Musiker ihr Publikum vorweihnachtlich gestimmt in die Kälte. (GEA)